Thomas Südhof musste lange auf die Nachricht aus Stockholm warten. Das Nobelpreis-Komitee konnte ihn am Vormittag telefonisch nicht erreichen. So erfuhr der gebürtige Deutsche erst nach der Welt-Öffentlichkeit, dass er zusammen mit den US-Amerikanern James E. Rothman (63) und Randy W. Shekman (65) den Nobelpreis für Medizin erhalten hat. Südhof war im Auto auf dem Weg zu einer Tagung in Andalusien. Mit dieser Auszeichnung habe er niemals gerechnet, sagte Südhof. "Diese Ehre ist unglaublich schön." Die drei Preisträger teilen sich die nach der Bankenkrise verringerte Prämie von 930.000 Euro für die Erklärung von Transportprozessen in menschlichen Zellen. Südhof ging bereits vor 30 Jahren von Göttingen in die USA. Er arbeitet heute an der Elite-Universität in Stanford.

Der diesjährige Medizin-Nobelpreis ähnelt im Prinzip den Aufgaben des Logistik-Chefs einer großen Fabrik. Er muss sicherstellen, dass die Produkte der Firma zum richtigen Zeitpunkt beim passenden Kunden geliefert werden. Die drei Grundlagenforscher haben den dafür nötigen Mechanismus entschlüsselt. Ihre Fabriken sind die menschlichen Zellen, die unermüdlich Tausende Substanzen produzieren: Hormone und Proteine, die wichtig für den Stoffwechsel sind. Botenstoffe, die an anderen Stellen im Körper bestimmte Reaktionen auslösen sollen. Direkt nach der Produktion packt die Zelle ihre Produkte in kleine Behälter, Vesikel genannt: unter dem Elektronenmikroskop sichtbare Bläschen, etwa ein Mikrometer groß, von einer dünnen Hülle umgeben. Dieser raffinierte Verpackungsmechanismus sorgt dafür, dass die Produkte der Zelle sicher transportiert werden. Entweder bleiben sie in der Zelle und werden dort weiter verarbeitet. Oder sie wandern bis zum Rand der Zelle, wo sie dann in die Umgebung abgegeben werden.

James E. Rothman, Randy W. Shekman und Thomas Südhof können erklären, wie diese Vesikel wieder ausgepackt werden. Wenn das nicht ordentlich funktioniert, bekommt der Körper Probleme. Die Zuckerkrankheit vom Typ Diabetes 2 resultiert teilweise daher, dass Insulin nicht rechtzeitig und in der falschen Menge bereitgestellt gestellt wird. Manche Formen der Epilepsie haben als Ursache, dass die Informationsweitergabe im Gehirn nicht funktioniert. "Die Arbeiten der drei Preisträger haben zwar nicht zu Therapien geführt, aber sie können Krankheiten erklären", sagte Juleen R. Zierath , Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees. Sie verglich den Transport der Zellprodukte mit der Fahrt eines Linienbusses. "Wenn die Passagiere nicht an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt aussteigen, gibt es in der Stadt große Probleme. Die Fabriken bleiben leer, Schüler sind nicht in der Schule, sondern stattdessen woanders."

Zierath erläuterte die drei Stufen, in denen dieser außerordentlich präzise Mechanismus aufgeklärt wurde. Schekman hat Ende der 80er Jahre die Gene identifiziert, die an dem Prozess beteiligt sind, quasi die Verpackung steuern. Rothman entschlüsselte die Proteine, die es den Vesikeln erlauben mit ihrem Ziel zu verschmelzen. Dadurch wird die Verpackung wie mit einem Reissverschluss aufgetrennt und die Produkte der Zelle werden ausgeschüttet. Dann steht das Insulin zur Verfügung, um Zucker abzubauen. Oder eine Gehirnzelle bekommt einen Impuls, um eine körperliche Reaktion auszulösen. Das passiert nicht irgendwo im Körper, sondern nur dort, wo die Struktur von Empfänger und Vesikel exakt zusammenpassen. Südhof steuerte das letzte Detail bei: Er entdeckte bei Gehirnzellen, dass das Vorhandensein von Calcium das Öffnen der Verpackung steuert. Vereinfacht gesagt: Nur wenn genug Calcium vorhanden ist, werden die Vesikel ausgepackt. Damit wird beispielsweise verhindert, dass Hormone oder Signalstoffe freigesetzt werden, obwohl das nicht nötig ist - eine wichtige regulative Funktion, die Überreaktionen des Körpers verhindert.

Die Arbeit der drei Forscher steht in der Tradition anderer Medizin-Nobelpreise, die die Prozesse in den Zellen erklären. Und sie stehen für den Erfolg der amerikanischen Elite-Universitäten auf dem Gebiet der Zellphysiologie: Stanford, Harvard und das MIT in Boston haben die drei ausgebildet. James Rothman und Randy Shekman arbeiteten sogar direkt mit früheren Nobelpreisträgern zusammen. Auch Thomas Südhof erkannte früh, dass er seine Ziele am besten in den USA verwirklichen konnte. Der Sohn zweier Ärzte wuchs in Göttingen und Hannover auf, in Hannover machte er an der Waldorfschule 1975 Abitur. Schon während des Studiums in Göttingen weilte er zum Austausch in Harvard. Nach dem Doktortitel am Max-Planck-Institut in Göttingen zog es ihn 1983 in den USA. 1995 liebäugelte er mit einer Rückkehr nach Göttingen, "Meinungsverschiedenheiten" mit der Führung der Max-Planck-Gesellschaft hinderten ihn aber daran.

Südhof begann als Biochemiker, heute ist er Zellbiologe, Genforscher, Physiologe und Hirnforscher. Er beschreibt sich selbst als Arbeitstier - aus Überzeugung: "Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich genieße, was ich tue", sagte er. Seine Arbeitswut löse in seinem Umfeld manchmal Kopfschütteln aus: "Meine Frau denkt, ich bin verrückt. Ich bin unglaublich getrieben. Ich glaube, das war nicht so, als ich jung war", sagte Südhof.

Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) hat sich erfreut über die Vergabe des Medizin-Nobelpreises an Thomas Südhof geäußert. Diese große Auszeichnung sei "Anerkennung und Ansporn für alle deutschen Wissenschaftler, die sich in der Gesundheitsforschung engagieren". Seine Forschung habe wichtige Grundlagen geschaffen, die Ursachen zahlreicher Erkrankungen besser zu verstehen, erklärte Wanka am Montag in Berlin.