Ein Wiener Forscher hat aus neuronalen Stammzellen dreidimensionale Strukturen von Gehirnzellen erzeugt. Diese "Mini-Gehirne" können einen großen Beitrag zur Erforschung von Krankheiten leisten und bei der Entwicklung von Medikamenten helfen.

Sie sind zwar nur vier Millimeter groß, aber ihre Existenz belegt, dass die Stammzellforschung die Medizin revolutionieren kann. Eine Forschergruppe um den deutschen Biochemiker Jürgen Knoblich hat am Institut für molekulare Biotechnologie in Wien menschliche "Mini-Gehirne" erzeugt - treffender beschrieben als eine dreidimensionale Struktur von Gehirnzellen, die sich in einigen Punkten wie ein menschliches Gehirn verhalten. Sie verwendeten dazu zwei verschiedene Quellen: menschliche embryonale Stammzellen und Hautzellen eines Patienten mit einem angeborenen schweren Hirnschaden (Mikrozephalie). Beide Ausgangsmaterialien wuchsen binnen zwei Monaten zu den Mini-Gehirnen heran, deren Komplexität in etwa mit der Gehirnstruktur im Embryo der neunten Schwangerschaftswoche verglichen werden kann. Die Zellstrukturen sind bereits zehn Monate alt und noch immer intakt, berichten die Wiener Forscher in der Wissenschaftszeitung "Nature" - allerdings wachsen sie nicht weiter.

Diese Forschung erweckt Frankenstein-Fantasien und stellt zudem die Frage, ob das menschliche Bewusstsein quasi als Gehirn aus der Retorte entstehen kann. Die Österreicher sind von diesen Ansätzen weit entfernt. Schon deshalb, weil ihre Zellen keine Blutgefäße entwickeln können und somit lediglich über die äußere Schicht mit Nährstoffen versorgt werden.  Im Inneren der Mini-Gehirns gibt es vermutlich eine Art "tote Zone".

Aber Untersuchungen zeigten, dass die Mini-Gehirne wie das echte Gehirn in voneinander abgrenzbare Bereiche unterteilt waren mit Anteilen des Großhirns, des Hippocampus, der Hirnhäute, Ventrikel und Netzhautgewebe. Ganz ähnlich wie bei der natürlichen Entwicklung der menschlichen Großhirnrinde bildeten sich zum Beispiel auch Nervenzellen und Gliazellen. Und das Besondere, das diese Forschungsarbeit so einzigartig macht: Einzelne, räumlich voneinander entfernt liegende Bereiche stehen miteinander in Verbindung - die Miniaturabbildung eines Netzwerks, wie es für unser Gehirn typisch ist. Die Struktur unterscheide sich aber vom echten Vorbild, schreibt Jürgen Knoblich, denn bei einem intakten Embryo bekomme das Gehirn während seiner Entwicklung zusätzlich noch Wachstumssignale von den anderen Körperteilen. Die Rekonstruktion sei viel besser als bei allen bisherigen In-vitro-Verfahren, schreiben die Forscher in "Nature".

Es sieht so aus, als ob die Stammzellen in den rotierenden Bio-Reaktoren in Wien einen ähnlichen Weg gehen wie bei der Entwicklung des Embryos. Tatsächlich, bestätigt auch Jürgen Knoblich, dass es eine der wichtigen Vorgaben seines Verfahrens war, die Zellen quasi in Ruhe reifen zu lassen. Er gab ihnen eine Umgebung, in der sie sich optimal entwickeln konnte: Der Umzug in einen rotierenden Reaktor nach einer Art Startreaktion auf einem Gel erleichterte den Aufbau dreidimensionaler Strukturen: diese Selbstorganisation der Zellen endete allerdings etwa auf Erbsengröße.

Stammzellforscher haben in den vergangenen Jahren sehr viele Verfahren beschrieben und die Alleskönner in fast alle Zelltypen des menschlichen Körpers verwandelt. Das gelingt mittlerweile auch den Einsatz von embryonalen Stammzellen: mit Hautzellen, die dabei umprogrammiert werden und so neue Funktionen übernehmen können. Diese Zellkulturen, beispielsweise im Takt schlagende Herzzellen, sollen irgendwann einmal bei der Therapie von Krankheiten abgestorbenes Gewebe ersetzen. Die Erfüllung eines Traum gleich ganze Organe im Labor zu erzeugen, halten die Forscher allerdings kaum für möglich. Das gilt erst recht für das Gehirn.

Auch der Ansatz, den der in Tübingen, London und San Francisco ausgebildete Jürgen Knoblich für seine Forschung wählte, verdeutlicht den Weg, den die Stammzellforschung in jüngster Zeit eingeschlagen hat. Sie versucht Modelle für Krankheiten zu entwickeln. Die Forscher wollen jetzt die Mini-Gehirne, die aus den gesunden Zellen entstanden sind, mit den Strukturen aus den Zellen des Mikrozephalie-Patienten vergleichen. Patienten mit dieser Fehlentwicklung des Gehirns haben einen außergewöhnlich kleinen Kopf und ein kleines Hirn. Sie sind in der Regel geistig behindert.

Vielleicht lassen sich auf diesem Wege neue Medikamente finden - oder zumindest eine Erklärung, wie diese Krankheit entsteht. Tierversuche sind dafür nur sehr begrenzt geeignet, weil Maus und Mensch in vielen Dingen zu verschieden sind. „In Zukunft möchten wir auch andere Krankheiten, die mit entwicklungsbiologischen Störungen des Gehirns in Zusammenhang stehen könnten - etwa Autismus oder Schizophrenie - in der Kultur nachbauen und erforschen“, sagt Studienleiter Knoblich.

Noch attraktiver - und von der Pharma-Industrie sehnsüchtig erwartet - sind die Zellen als Kontrollmedium für schädliche Nebenwirkungen von Medikamenten. Besonders Herz und Gehirn reagieren häufig ungewollt auf Arzneimittel, viele Substanzen mussten selbst nach der Markteinführung zurückgerufen werden.

Bei der Entwicklung von Medikamenten könnten durch Tests mit echten menschlichen Zellen einige Millionen Euro gespart werden; eine Aufgabe, der sich viele Stammzellforscher widmen. Während Modellsysteme für Herzzellen schon weiter fortgeschritten sind, fehlten diese Testmöglichkeiten für Gehirnzellen bisher noch.